Musiktheorie
Nachhall
Eine Klanginstallation von Jens Reulecke unter Mitwirkung von Studierenden
Im Gedenken an den ehemaligen Jüdischen Friedhof, der sich unter dem Gelände des Juliusspitals Würzburg befindet, wurde im Johanna-Stahl-Zentrum Würzburg am 02.07. eine Ausstellung des Berliner Künstlers Jens Reulecke mit bearbeiteten Fotografien, einer Bodeninstallation und einer Klangcollage eröffnet. TeilnehmerInnen des Kurses „Chanter sur le livre“ von Prof. Almut Gatz haben am 28. und 29.03.2021 gemeinsam unter strengen Corona-Regelungen und mit einem Schnelltestverfahren die Klanginstallation gestaltet.
Für die meisten TeilnehmerInnen ist die Erarbeitung der von Jens Reulecke gewünschten Klänge eine völlig neue Erfahrung: Keine Noten, kein vorgegebenes Konzept, allein 19 alte jüdische Namen geben den Rahmen für das Projekt. Sie werden gewispert, gehaucht, gesungen, gerufen oder gesprochen. Echos und Variationen kommen aus der Stille und bewegen sich im Raum. Der dramaturgische Aufbau und die Ausdrucksmöglichkeiten werden dabei von den Studierenden gemeinsam entwickelt. Am Ende entstehen halbstündige Aufnahmen, die Jürgen Rummel im Großen Saal der Hofstallstraße mit vier Mikrofonen aufzeichnet.
Weitere Informationen auf der Webseite des Johanna-Stahl-Zentrums und bei der Stadt Würzburg.
Rezensionen der Ausstellung finden Sie in der Jüdischen Allgemeine und in der MainPost.
Jens Reulecke im Interview
Das Interview wurde von Paula Kaiser (Studentin an der HfM Würzburg) geführt und verschriftlicht.
Der in Berlin lebende Künstler Jens Reulecke studierte an der Hochschule der Künste Berlin Bildende Kunst (Malerei) und war Meisterschüler bei Prof. Horst Hirsig. Ausstellungen und Projekte führten ihn unter anderem nach Schweden, Paris, New York und Südkorea. Seine aktuellen Arbeitsbereiche sind Performance, Installation und Fotografie. Seit 2009 Lehrtätigkeit/Projekt-Partizipationen an verschiedenen Universitäten/Hochschulen in Deutschland, China, den USA. Seit 2012 Mitglied im Verein Berliner Künstler. Seit 2020 Mitglied bei der VG Bild-Kunst.
PK: Woher haben Sie die Inspiration zu dieser Ausstellung genommen?
JR: Die “Inspiration“ zur Ausstellung ging vom Ort selber aus. Das heißt, ich war zunächst neugierig zu erfahren, was es eigentlich mit diesem ehemaligen jüdischen Friedhof aus dem Mittelalter auf sich hat, dessen Spuren ja gar nicht mehr wirklich sichtbar sind, da er vom Juliusspital komplett überbaut wurde. So habe ich mich zunächst auf das Gelände begeben, um zu schauen, ob ich da irgendetwas aus dieser Vergangenheit wahrnehmen kann. Doch war da für mich nichts wahrzunehmen. Also habe ich weiter recherchiert und bin auf eine dreibändige Dokumentation gestoßen, die von den Grabsteinen/Grabsteinfragmenten handelt, die 1987 bei Bauarbeiten in Würzburg entdeckt wurden und nun im Shalom Europa gelagert werden. Meine Recherchen führten weiter zur Geschichte der Juden in Würzburg/Unterfranken und ich tastete mich an der Thematik entlang. Diese „Kontaktaufnahme“ belebte zudem meine Imagination, bis sich die „Abwesenheit“ schließlich in eine „Anwesenheit“ verwandelte. Das heißt, meine Einbildungskraft weckte mein Empfinden für diesen Ort und damit die Fähigkeit, mir Abwesendes zu vergegenwärtigen. Der künstlerische Prozess erlaubte mir zudem, mich diesem „Eindruck der Anwesenheit“ über viele Schritte anzunähern, während unzählige Entwürfe und andere Formen der Darstellung entstanden. So kann ich zweifelsohne sagen, dass etwas vom ehemaligen Friedhof ausging, das mich in meiner künstlerischen Findung leitete oder, radikaler formuliert, das auf mich einwirkte und damit selbst etwas hervorbrachte.
PK: Um was geht es in der Ausstellung?
JR: Die Ausstellung „Nachhall“ spiegelt etwas von dem, was in mir nachhallte, während mir die Anwesenheit des Friedhofs begegnete. Dabei stehen Phänomene wie Schweben, von Wind Bewegtes, Unbegrenztes, Zartes, Auf- und Abklingendes, Prozesse der Transformation, Immaterielles, … im Mittelpunkt, die sich in der Ausstellung zwei- und dreidimensional entfalten. Im Rahmen der konkreten künstlerischen Umsetzung spielen großformatige Fotografien eine Rolle, auf denen Vogelfedern abgebildet sind, die durch die Luft fliegen. Hinzu kommt eine Art kleiner Wald, der sich im Ausstellungsraum befindet. An den Ästen sind z. T. Federn befestigt und einige Stämme sind von originalen Grabsteinfragmenten umgeben, die vom ehemaligen Friedhof stammen. Doch von Anfang an spielte auch der „Klang“ eine entscheidende Rolle in meiner Wahrnehmung, wurde die „Anwesenheit“ für mich in einer Weise „hörbar“, ohne sagen zu können, was ich da genau hörte. Und in dem Moment wusste ich, dass dem Klang eine wichtige Rolle innerhalb der Installation zukommt.
PK: Mit welchen Vorstellungen sind Sie in die Erarbeitung der Klangcollage gegangen?
JR: Ich wusste, dass der Klang, den ich innerlich hörte ohne ihn beschreiben zu können, erst in der Kooperation mit dem Vokalensemble von Frau Prof. Gatz hörbar werden würde. Schnell wurde klar, dass Textfragmente bzw. Worte nötig sind, um der Improvisation eine Orientierung zu geben. Zuerst schrieb ich verschiedene lyrische Texte, wurde dann aber auf die Namen aufmerksam, die auf den Grabsteinen des ehemaligen Friedhofs stehen. Ich las unzählige Namen und jene, die in mir selbst zum Klingen kamen, wählte ich aus, bis ich schließlich eine Liste mit 19 Namen erstellte. Ich hatte dabei den deutlichen Eindruck, dass diese Namen selbst bereits jenen Klang in sich trugen, der durch das Vokalensemble hörbar werden wollte. Dazu brauchte es natürlich Vertrauen aller Beteiligten und die Bereitschaft, sich vom Klang selbst in Bewegung setzen zu lassen. Voraussetzung für dieses Experiment war ebenso die Präsenz von Stille, die Offenheit, sie auszuhalten und den Klängen zu erlauben, sich durch unsere Stimmen zu offenbaren. Für mich war das so eine Art „heilige Handlung“ mit großem Respekt für jene Menschen, die auf dem Friedhof begraben wurden und nun durch uns in eine Art „Anwesenheit“ entlassen wurden, die über ein bloßes Erinnern hinausgeht, da es sich hierbei vielmehr um einen Prozess der Vergegenwärtigung handelt.
Dabei brauchte es gegenseitiges Vertrauen, sodass sich eine fragile Sensibilität bilden konnte, wo nichts erzwungen wird, nichts zu funktionieren hat, nicht Bekanntes hörbar wird und nicht produziert wird, sondern allein das, was sich ereignet, Raum bekommt, während sich alle davon an die Hand nehmen lassen.
Mir war es während der Proben wichtig, immer wieder darauf hinzuweisen, worum es hier geht, und dabei alles fernzuhalten, was dieses subtile Klanggewebe bedrohen könnte.
Da alle Beteiligten bereit waren, sich auf das Konzept einzulassen, konnten alle 19 Namen ihren Klang entfalten und eine wogende Klangdichte entstehen, die uns alle durch einen Raum bewegte, dem die Besucher*innen der Ausstellung Nachhall ebenso begegnen werden.
PK: Hat sich Ihre Vorstellung der Klangcollage während der Arbeit mit den Studierenden verändert?
JR: Ich spürte von Anfang an, also als die ersten Töne des Ensembles für mich hörbar wurden, dass plötzlich das, was ich da von Anfang an im Inneren hörte, nun eine wirkliche Klangform annahm, so als ob etwas, das immer schon in uns seinen Raum hat, plötzlich real und damit greifbar wird.
Somit konnte ich durch leichte Korrekturen auf genau diese Klangqualität zusteuern. Dazu gehören selbstverständlich auch alle Stimmen und ihr Zusammenklang, wodurch sich ein Klangkörper bildete, der mich immer wieder neu überraschte. Aber genau das garantiert am Ende die Qualität der Aufnahme, die es einem erlaubt, sich immer wieder mit dieser „Anwesenheit“ zu verbinden.
So bin ich Frau Prof. Gatz, dem Vokalensemble, Herrn Rummel sowie der Hochschulleitung unendlich dankbar, dass sie mir und auch dem ehemaligen Friedhof, dieses Geschenk gemacht haben! – Vielen Dank dafür!

Studierende über das Projekt
Ich war darauf gespannt, wie das Thema "Jüdische Erinnerung" akustisch dargestellt werden kann, ohne dass man sich auf explizit jüdische Originalmusik beruft. Außerdem sah ich es als Herausforderung an, einen lebendigen Beitrag zu diesem Thema gemeinsam mit meinen KommilitonInnen zu gestalten.
Mich hat berührt, dass solch eindrucksvolle Stimmungen nur durch Worte und wortähnliche Laute erzeugt werden können.
Nachdem man sich nach einigen Proben als Gruppe "eingeschwungen" hatte, waren die jüdischen Namen keine bloße Folie mehr, sondern erhielten eine persönliche Bedeutung. Das ganze Projekt wirkte für mich dadurch wie eine große Hommage, so als wollte man den angesprochenen und angesungenen Protagonisten der Klanginstallation freundschaftlich die Hand reichen.